Wie viele Obdachlose gibt es in Deutschland 2022

Wie viele Obdachlose gibt es in Deutschland 2022

48 000 Menschen sind Schätzungen zufolge in Deutschland obdachlos und leben auf der Straße.

(Foto: dpa)

  • Insgesamt 650 000 Menschen sind nach Angaben des Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Deutschland von Wohnungslosigkeit betroffen.
  • Die Zahlen stammen von 2017. Der Wert ist eine Hochrechnung, die auf Zahlen aus Nordrhein-Westfalen beruht. Eine bundesweite Erhebung gibt es bisher nicht.

In Deutschland haben schätzungsweise 650 000 Menschen keine eigene Wohnung. Das haben Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) für das Jahr 2017 ergeben. Die meisten von ihnen leben in Notquartieren, sagte ein Sprecher des BAGW. Davon seien 48 000 Menschen obdachlos, also ohne ein Dach über dem Kopf.

Aktuellere Zahlen als die von 2017 gibt es nicht, da die Schätzungen auf einer Erhebung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2017 beruhen. Eine bundesweite Zählung hat es bislang nicht gegeben, die Zahlen der BAGW sind eine Hochrechnung.

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Unter den Wohnungslosen waren demnach auch 375 000 anerkannte Asylsuchende und Flüchtlinge in Flüchtlingsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer. Nimmt man die Geflüchteten aus der Zählung, waren 2017 dem Bericht zufolge gut 275 000 Menschen ohne Wohnung in Deutschland. Die Arbeitsgemeinschaft schätzt die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter diesen Wohnungslosen auf acht Prozent, 2017 waren es in ganz Deutschland 22 000 junge Menschen. Die meisten Betroffenen seien Männer, ein Viertel Frauen.

Unter den etwa 48 000 Obdachlosen, die nicht in einer Wohnunterkunft des Staates lebten, sondern auf der Straße schliefen, waren viele Menschen aus anderen EU-Staaten, vor allem aus Osteuropa. Die "Straßenobdachlosigkeit" sei stark durch die Zuwanderung aus EU-Ländern nach Deutschland geprägt, schreibt die BAGW in ihrer Analyse.

Benötigt werden pro Jahr 80 000 bis 100 000 neue Sozialwohnungen

Im Kampf gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit müsse ein bestimmter Anteil sozial gebundener Wohnungen ausdrücklich für Wohnungslose bereitgestellt werden, fordert Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAGW. "Benötigt werden pro Jahr 80 000 bis 100 000 neue Sozialwohnungen und weitere 100 000 bezahlbare Wohnungen", schreibt der Verein in einer Bewertung der aktuellen Zahlen.

Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) wurden 2018 bundesweit 287 000 Wohnungen fertiggestellt. Allerdings gebe es in großen Städten einen gravierenden Wohnungsmangel, in kleineren Städten und auf dem Land dagegen Leerstände und ein Überangebot.

Der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW wies kürzlich darauf hin, dass bei preiswerten Mietwohnungen nur die Hälfte des Neubaubedarfs bundesweit gedeckt werden konnte und bei Sozialwohnungen noch weniger.

Zahl der wohnungslosen Menschen im Wohnungslosensektor steigt Die Jahresgesamtzahl wohnungsloser Menschen im Wohnungslosensektor ist nach Schätzung der BAG W von 237.000 Menschen im Jahr 2018 auf 256.000 im Jahr 2020 gestiegen, das ist ein Gesamtanstieg von 8 Prozent.  Im Einzelnen: Im Vergleich der Jahre 2018 zu 2019 steigt die Jahresgesamtzahl um 9,3 Prozent (ein Plus von 22.000). Von 2019 zu 2020 wird ein leichter Rückgang um 1,5 Prozent (ein Minus von 4.000) geschätzt.  Die Stichtagszahl Wohnungsloser im Wohnungslosensektor steigt nach dieser Schätzung von 140.000 Menschen im Jahr 2018 auf 158.000 in 2020, das ist ein Gesamtanstieg um knapp 13 Prozent.  Im Einzelnen: Am Stichtag 30.06.2019 steigt die Zahl im Vergleich zum Stichtag 30.06.2018 um knapp 8 Prozent (ein Plus von 11.000). Von 2019 nach 2020 steigt sie erneut um 4,6 Prozent (ein Plus von 7.000). 

Mit der Jahresgesamtzahl werden auch die Menschen erfasst, die vor bzw. nach dem Stichtag wohnungslos waren, es aber zum Stichtag nicht sind. Deshalb liegt eine Jahresgesamtzahl immer deutlich höher als eine Stichtagszahl. Sie misst im Unterschied zu einer Stichtagszahl die tatsächliche Zahl der im Verlauf eines Jahres von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen und bildet somit das gesellschaftliche Ausmaß des Problems besser ab.

Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W: „Der stärkere Anstieg der Stichtagszahlen im Vergleich zu den Jahresgesamtzahlen ergibt sich aus einer abnehmenden Fluktuation im Hilfesystem – vermutlich als Folge der Corona-Pandemie. Bei einer BAG W-Erhebung Ende Oktober 2020 zu den Folgen der Pandemie hatte mehr als ein Drittel der befragten Dienste und Einrichtungen gemeldet, dass sie ihr Hilfeangebot pandemiebedingt einschränken mussten: Platzzahlen in Einrichtungen mussten reduziert werden, ebenso wie Beratungstermine und Hilfen in niedrigschwelligen Angeboten. Wir müssen also vermuten, dass es mehr verdeckt wohnungslose Menschen gibt; Hilfesuchende, die nicht an das Hilfesystem andocken konnten. Somit könnten die tatsächlichen Jahresgesamtzahlen im Wohnungslosensektor im Laufe des Jahres 2020 höher liegen.“

Wohnungslosigkeit anerkannter Geflüchteter sinkt

Seit dem Jahr 2016 schließt die BAG W in ihre Schätzung die Zahl der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten ein, weil neben den Wohnungslosen im Wohnungslosensektor auch dieser Personenkreis die Nachfrage nach bezahlbaren Wohnungen am Wohnungsmarkt erhöht. Für das Jahr 2020 schätzt die BAG W die Zahl der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften oder dezentraler Unterbringung auf knapp 161.000 (Jahresgesamtzahl).  Im Einzelnen: Im Vergleich 2018 zu 2019 sinkt die Jahresgesamtzahl der Wohnungslosen im Geflüchtetensektor um ca. 26 Prozent. Von 2019 auf 2020 reduziert sich diese Zahl nochmals um ca. 50 Prozent, so dass sich zwischen 2018 und 2020 ein Gesamtrückgang um knapp 64 Prozent ergibt.  Dieser Rückgang vollzieht sich analog der seit 2017 stark abnehmenden Zahl der Geflüchteten, die in Deutschland aufgenommen worden sind. Bei den Stichtagszahlen dieser Gruppe ergibt sich ein nahezu gleiches Bild, da es in diesem Sektor durch die drastisch gesenkten Flüchtlingszahlen so gut wie keine Neuzugänge gibt. 

Werena Rosenke: „Mit diesen Schätzzahlen können wir allerdings keine Aussage darüber treffen, wie hoch die Zahl der anerkannten Geflüchteten ist, die in prekären und / oder unzumutbaren Wohnverhältnissen leben.“  

Jahresgesamtzahl aller wohnungslosen Menschen bei ca. 417.000

Die Jahresgesamtzahl aller wohnungslosen Menschen in Deutschland liegt in 2020 bei ca. 417.000. Im Vergleich des Jahres 2018 mit 2019 reduziert sich die Jahresgesamtzahl um 14 Prozent und von 2019 zu 2020 nochmals um ca. 29 Prozent, so dass sich zwischen 2018 und 2020 ein Gesamtrückgang um 39 Prozent ergibt.

Werena Rosenke erklärt dazu: „Auch wenn die Gesamtzahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland seit 2018 rückläufig ist, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Die niedrigere Gesamtzahl der Menschen, die ohne eigene mietvertraglich gesicherte Wohnung in Deutschland leben, ist ausschließlich auf die stark rückläufige Zahl anerkannter wohnungsloser Geflüchteter zurückzuführen. Diese Rückläufigkeit entspricht der seit 2017 stark abnehmenden Zahl von Geflüchteten, die in Deutschland Aufnahme gefunden haben. Auch wenn die Zahl der Wohnungslosen im Geflüchtetensektor sinkt, kann von einer Entspannung des Wohnungsmarktes keine Rede sein – wie der Anstieg der Zahlen im Sektor der Wohnungslosenhilfe deutlich zeigt.“ 

Die Stichtagszahl aller wohnungslosen Menschen in Deutschland wird von der BAG W für 2020 auf 306.000 geschätzt. Von 2018 auf 2019 reduziert sich die Zahl um 17 Prozent und von 2019 auf 2020 erneut um 32 Prozent, so dass sich zwischen 2018 und 2020 ein Gesamtrückgang am Stichtag um 44 Prozent ergibt.

Struktur der Wohnungslosigkeit 2020

Die folgenden Zahlen und Daten zur Struktur der Wohnungslosigkeit beziehen sich auf die Jahresgesamtzahl und berücksichtigen nicht die wohnungslosen anerkannten Geflüchteten, da für diese Gruppe der Wohnungslosen keine entsprechenden soziodemografischen Daten verfügbar sind: Ca. 45.000 Menschen leben im Laufe eines Jahres ohne jede Unterkunft auf der Straße.  Ca. 178.500 (70 Prozent) der wohnungslosen Menschen sind alleinstehend, ca. 77.000 (30 Prozent) leben mit Partnern und/oder Kindern zusammen. Die BAG W schätzt die Zahl der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 8 Prozent (20.000).  Der Frauenanteil unter den volljährigen Wohnungslosen liegt nach der aktuellen Schätzung bei 33 Prozent (78.000 Frauen). Der Anteil der erwachsenen Männer liegt bei 67 Prozent (157.000). (Alle Angaben jeweils ohne Berücksichtigung der wohnungslosen Geflüchteten.) Ca. 30 Prozent der Wohnungslosen (ohne Einbezug der wohnungslosen Geflüchteten) haben keine deutsche Staatsbürgerschaft. Das sind knapp 80.000 Menschen. Viele von ihnen leben ohne jede Unterkunft auf der Straße. Vor allem in den Metropolen sind bis zu ca. 50 Prozent der Personen ohne jede Unterkunft auf der Straße Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. 

Armut und Wohnungsnot

Hauptgründe für die steigenden Zahlen im Wohnungslosensektor sind für die BAG W das nach wie vor unzureichende Angebot an bezahlbarem Wohnraum, die weitere Schrumpfung des Sozialwohnungsbestandes und eine Verfestigung von Armut. Es fehlt bezahlbarer Wohnraum für Menschen im Niedrigeinkommensbereich und für die Menschen, die Transferleistungen beziehen. Einkommensarme Ein-Personen-Haushalte, Alleinerziehende und kinderreiche Paare sind besonders vulnerable Personengruppen. 

Werena Rosenke: „Der Anteil der Klient:innen der Wohnungslosenhilfe, die obwohl erwerbstätig wohnungslos sind, hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre beispielsweise verdoppelt und der Anteil Alleinerziehenden sowie der Paare mit Kind(ern) im freiverbandlichen Hilfesystem ist gestiegen.“

Der besonders großen Nachfragegruppe der Einpersonenhaushalte (16,5 Millionen) stand im Jahr 2020 nur ein Angebot von 5,5 Millionen Ein- bis Zweizimmerwohnungen gegenüber. Der Bestand an Sozialwohnungen hat sich in den Jahren 2019 und 2020 weiter reduziert, seit 2017 gibt es eine Schrumpfung des Sozialwohnungsbestands um  90.000 Wohnungen.   

Massive Anstrengungen und neue Instrumente sind zur Überwindung der Wohnungslosigkeit gefordert 


Werena Rosenke: „Mit 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr – wie von der Ampelregierung versprochen – kann dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen nicht ausreichend entgegengesteuert werden. Zusätzlich zu den Sozialwohnungen werden weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen benötigt. Ein wirksames Mittel wären dauerhafte Sozialbindungen.  Bezahlbarer Wohnraum ist zwar eine Voraussetzung für die Überwindung von Wohnungslosigkeit, aber es bedarf zusätzlicher Maßnahmen, um gezielt wohnungslose Menschen wieder in eine eigene Wohnung zu bringen, denn sie sind oft stigmatisiert und besonders ausgegrenzt. Gefordert sind deshalb Bindungen und Quotierungen im Sozialwohnungsbestand für Wohnungslose sowie die gezielte Akquirierung von Wohnungsbeständen bei privaten Vermietern und der Wohnungswirtschaft. Sogenannte Gewährleistungsverträge zwischen Kommunen und Vermietern und andere positive Anreize sind bereits erfolgreich in der Praxis erprobt. Sie müssten aber flächendeckend umgesetzt werden.   Nach einem Wohnungsverlust werden vielerorts Einzelpersonen oder Familien in sogenannten Obdachlosenunterkünften untergebracht. Schon seit vielen Jahren fordert die BAG W, diese Schlichtwohnungen und Notunterkünfte zu sanieren und in Sozialwohnungen umzuwandeln und wohnungslose Haushalte somit in den allgemeinen Sozialwohnungsbestand zu integrieren. 

Zusätzliche Wohnungen für Wohnungslose lassen sich auch dadurch erschließen, dass die Richtwerte für die Kosten der Unterkunft (KdU) bei wohnungslosen Haushalten deutlich überschritten werden können.“

Prävention verstärken

Es müssen alle möglichen Maßnahmen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit ergriffen werden.

Werena Rosenke: „Ein Leichtes wäre es, die Mietschuldenübernahme im SGB II wie im SGB XII als Beihilfe vorzusehen. Darüber hinaus muss durch den Gesetzgeber dringend klargestellt werden, dass bei einer Mietschuldenbefriedigung nicht nur die außerordentliche Kündigung des Mietverhältnisses, sondern auch die ggf. hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung geheilt ist.  In jede Kommune und jeden Landkreis gehört eine Fachstelle zur Verhinderung von Wohnungsverlusten. Der Aufbau effizienter Präventionsstrukturen sollte dringend durch entsprechende Förderprogramme des Bundes unterstützt werden.

An all diesen Punkten sollte der von der neuen Bundesregierung vorgesehene Nationale Aktionsplan zur Überwindung von Wohnungsnot und Obdachlosigkeit ansetzen.“