Welche hürden müssen für eine Grundgesetzänderung genommen werden

Inzwischen gilt in allen Bundesländern die Pflicht zum Tragen medizinischer Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften. Medizinische Masken in diesem Sinne sind sog. OP-Masken sowie Masken der Standards KN95/N95 oder FFP2. In Bayern ist allein das Tragen von FFP2-Masken oder anderen Masken gleichen Standards zulässig, OP-Masken reichen hier nicht aus.

Aus der Perspektive der Pandemie-Bekämpfung ist eine solche qualifizierte Maskenpflicht leicht zu begründen. Denn bessere Masken können sowohl die tragende Person als auch ihre Umgebung deutlich besser vor einer Infektion schützen. Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, den jede Pflicht zum Tragen einer Maske bedeutet, ist bei einer besseren Maske gegenüber einer einfachen Maskenpflicht nur unwesentlich tiefer, wenn überhaupt. Zugleich können die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch die besseren Masken besser geschützt werden.

Wohlfahrtsverbände und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen weisen aber zu Recht darauf hin, dass die Regelungen mit Blick auf das im Grundgesetz verankerte Recht der sozialen Teilhabe sowie das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auch problematisch sein können. Medizinische Masken sind in der Regel teurer – ab ca. ein Euro das Stück – und damit für viele Empfänger*innen sozialer Leistungen derzeit kaum bezahlbar. In der Berechnung des Hartz-IV-Regelsatzes sind derzeit monatlich insgesamt nur 17,02 € für die Gesundheitspflege vorgesehen – insbesondere in Pandemie-Zeiten ein deutlich zu geringer Betrag, wenn allein für die hochwertigen Masken mindestens 30 Euro im Monat fällig werden, zumal in der Bedarfsberechnung für den Erwerb medizinischer Erzeugnisse ohne Rezept ganze 2,63 € veranschlagt sind. Inzwischen hat die Bundesregierung angekündigt, dass Menschen in der Grundsicherung je zehn kostenlose FFP2-Masken erhalten sollen. Hierbei kann es sich allerdings nur um einen kleinen und kurzfristigen Beitrag zur Lösung eines strukturellen Problems handeln.

Rechte und Bedürfnisse von Asylsuchenden werden in diesem Zusammenhang weitgehend ignoriert. Die Diskussion um die Regelung zu den kostenlosen FFP2-Masken veranschaulicht dies beispielhaft: Asylsuchende haben keinen Anspruch auf kostenlose FFP2-Masken, obwohl diese aufgrund der Unterbringung in Sammelunterkünften häufig einem besonders hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind und in der Regel noch weniger Geld zur Verfügung haben als Menschen in der Grundsicherung. Der Gesetzgeber ist aufgefordert hier zu handeln. Soziale Teilhabe und effektiver Gesundheitsschutz dürfen keine Frage der Größe des Geldbeutels oder des Aufenthaltsstatus sein.

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Grundsätzlich kann der Bundestag auch dann Beschlüsse fassen und Gesetze verabschieden, wenn er nur minimal besetzt ist. Das ist auch jenseits der Corona-Pandemie der Parlamentsalltag.

Das Grundgesetz schweigt zu der Frage, wie viele Mitglieder des Bundestages anwesend sein müssen, damit dieser Beschlüsse fassen kann, und überlässt es der Geschäftsordnung, dies zu regeln (Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 GG). Wie in der Geschäftsordnung des Bundesrates ist auch in der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt, dass mehr als die Hälfte seiner Mitglieder anwesend sein müssen, damit der Bundestag beschlussfähig ist (§ 45 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Bundestages, GOBT). Wegen der Corona-Pandemie hat der Bundestag diese Schwelle bis zum 31. Dezember 2020 auf ein Viertel seiner Mitglieder herabgesetzt (siehe den neuen § 126a Absatz 1 GOBT). Gleichwohl wird die Beschlussfähigkeit vermutet: Sie liegt also solange vor, bis das Gegenteil festgestellt wurde. Wenn Zweifel bestehen, dass der Bundestag beschlussfähig ist, kann eine Fraktion oder können fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages einen Antrag stellen, die dafür natürlich anwesend sein müssen. Erst auf einen solchen Antrag hin wird überprüft, ob ausreichend Mitglieder des Bundestages anwesend sind (§ 45 Absatz 2 GOBT).

Das heißt auch: Wenn weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages anwesend sind, kann nach der zweiten Variante kein Antrag auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit gestellt werden. Deshalb gehen einzelne Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur davon aus, dass damit eine absolute Untergrenze erreicht und der Bundestag dann nicht beschlussfähig sei. Dem kann man entgegenhalten, dass auch in einer solchen Situation noch möglich ist, dass die Abgeordneten einer Fraktion einen Antrag stellen, um die Beschlussunfähigkeit feststellen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Rechtsfrage noch nicht geäußert. Aber: Nur das Bundesverfassungsgericht kann ein Gesetz für nichtig erklären (sog. „Verwerfungskompetenz“). Auch ein Gesetz, das von weniger als fünf Prozent der Abgeordneten beschlossen wurde, ist damit erst einmal wirksam. Das kann dazu führen, dass sich durch Krankheits- und Quarantäne-Ausfälle Mehrheitsverhältnisse im Bundestag verschieben und sehr wenige anwesende Abgeordnete wirksame Gesetze im Bundestag beschließen könnten. Möglichkeiten trotz Abwesenheit abzustimmen, etwa per „E-Voting“, bestehen nicht.

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Der Bundesrat wirkt an allen Gesetzen mit, indem er ihnen zustimmt (sogenannte Zustimmungsgesetze) oder indem er sie billigt (sogenannte Einspruchsgesetze). Er ist das deutlich kleinere Gremium, in dem jedem Bundesland entsprechend seiner Einwohner*innenzahl Stimmen zukommen (zur Verteilung siehe hier). Die Stimmen der Bundesländer werden durch Mitglieder der Landesregierungen ausgeübt (Art. 51 Abs. 1 GG): In der Praxis werden dazu die Ministerpräsident*innen sowie sämtliche Minister*innen und Staatssekretär*innen der Länder bestellt und können sich vertreten (Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GG).

Der Bundesrat ist nur dann beschlussfähig, wenn die Mehrheit seiner Stimmen anwesend ist (§ 28 Abs. 1 Geschäftsordnung des Bundesrates, GOBR i.V.m. Art. 52 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG): Ein*e Vertreter*in jedes Bundeslandes reicht aus, um sämtliche Stimmen des Landes zu vertreten. Nach gegenwärtiger Stimmverteilung ist der Bundesrat damit jedenfalls beschlussfähig, wenn die Vertreter*innen von zehn Bundesländern anwesend sind. Sofern die Vertreter*innen der sieben bevölkerungsstärksten Bundesländer anwesend sind, reichen auch diese bereits aus. Anders als beim Bundestag besagt die Regelung in der Geschäftsordnung des Bundesrates jedoch, dass der Präsident bei Beschlussunfähigkeit die Sitzung aufzuheben hat (§ 28 Abs. 2 GOBR). Wenn also aufgrund von Krankheits- oder Quarantäneausfällen mehr als die Hälfte der Stimmen des Bundesrates ausfallen, dann scheitern Gesetze an der fehlenden Mitwirkung des Bundesrates. Wegen der Vertretungsregelungen ist das aber unwahrscheinlich.

Es gibt Situationen, in denen keine Gesetze mehr beschlossen werden können, nämlich wenn Bundestag und/oder Bundesrat beschlussunfähig sind. Dass in einem solchem Fall „Notstandsgesetze“ erlassen werden, sieht das Grundgesetz für eine Pandemie nicht vor.

Aber etwas ausführlicher: Das Grundgesetz bietet im Verteidigungsfall, wenn die Bundesrepublik also mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht, die Möglichkeit zur Notstandsgesetzgebung vor. Dann kann statt des Bundestages der sogenannte „Gemeinsame Ausschuss“ als ein „Notparlament“ zusammentreten und über wichtige Maßnahmen entscheiden (Art. 115a Abs. 2 GG). Der Gemeinsame Ausschuss ist eine Art verkleinertes Mischgremium aus Bundestag und Bundesrat. Er setzt sich aus 48 Mitgliedern zusammen, die zu zwei Dritteln aus Mitgliedern des Bundestages und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates bestehen. Seine Mitglieder werden dabei zu Beginn jeder Legislaturperiode entsprechend der Fraktionsstärken ausgewählt und die demokratischen Mehrheitsverhältnisse bleiben damit gewahrt (Art. 53a Abs. 1 GG).

Da der Gemeinsame Ausschuss aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates besteht, wäre auch er nicht handlungsfähig, wenn diese Mitglieder des Bundestages oder Bundesrates aufgrund von Krankheit oder Quarantänemaßnahmen nicht zusammentreten können. Aber darauf kommt es gar nicht an, weil der Gemeinsame Ausschuss eben nur im Falle der Verteidigung, nicht bei einer Pandemie aktiv wird. Im Frühjahr gab es Reformüberlegungen, um eine Notfallregelung für den Pandemiefall einzuführen (siehe die Berichterstattung der LTO und von Spiegel Online). Dabei ging es insbesondere um die Frage, wie die Mehrheitsverhältnisse aufrechterhalten werden können, selbst wenn die Fraktionen unterschiedlich stark von Ausfällen durch Erkrankungen oder Quarantäne betroffen sind. Erwogen wurde dafür zunächst eine sogenannte „Pairing-Lösung“, wie sie beispielsweise in Großbritannien und in der Vergangenheit auch schon in Deutschland praktiziert wurde: Dabei ziehen bei Abstimmungen auch andere Fraktionen Abgeordnete zurück, so dass die ursprünglichen Mehrheitsverhältnisse gewahrt bleiben. Derartige Absprachen sind jenseits einer Verfassungsänderung möglich. Aber: Wenn sich eine Fraktion nicht an diese Absprachen hält und ihre Abgeordneten dennoch alle abstimmen, wäre der Beschluss des Bundestages trotzdem rechtskräftig. Deshalb hat der Bundestag schließlich seine Geschäftsordnung so geändert, dass für die Beschlussfähigkeit bereits die Anwesenheit eines Viertels seiner Mitglieder genügt (siehe “Kann der Bundestag noch Gesetze verabschieden, wenn sehr viele Abgeordnete fehlen?”).

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Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Wer in einem Föderalstaat für welche Infektionsschutzmaßnahmen zuständig ist, lässt sich nicht immer einfach feststellen. Der Bund hat durch das Infektionsschutzgesetz (IfSG) die gesetzliche Grundlage für die einzelnen Maßnahmen geschaffen. Welche Maßnahmen tatsächlich ergriffen werden, entscheiden aber die Bundesländer.

Der Infektionsschutz ist Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nach Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 des Grundgesetzes. Das heißt, die Länder können eigene Gesetze nur erlassen, solange und soweit der Bund nicht selbst ein Gesetz erlassen hat. Hier hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz an sich gezogen, indem er das IfSG erlassen hat. Die Bundesländer treffen aber die im IfSG genannten Maßnahmen, also insbesondere Quarantäneanordnungen (§ 30), Berufsverbote (§ 31) oder auch Ausgangssperren (§ 28). Wer wiederum in den einzelnen Bundesländern zuständig ist, regeln die Bundesländer eigenständig. Für Nordrhein-Westfalen etwa sind die Zuständigkeiten in der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz (ZVO-IfSG) geregelt. Danach sind verschiedene Behörden für verschiedene Maßnahmen zuständig. Für die Maßnahmen der §§ 28, 30 und 31 IfSG sind z.B. die Städte und Gemeinden (und dort die örtlichen Ordnungsbehörden) zuständig. Deshalb ergreifen teilweise auch einzelne Städte innerhalb eines Bundeslandes unterschiedliche Maßnahmen.

Zudem sind die Länder durch § 32 IfSG auch ermächtigt, eigene Verordnungen zu erlassen, um allgemeingültige Gebote und Verbote zu formulieren. Davon wurde in Deutschland vielfach Gebrauch gemacht. Zudem haben Bund und Länder zwei Vereinbarungen getroffen, die eine einheitliche Regelung in allen Bundesländern gewährleisten sollen. Auf die erste Vereinbarung hatten alle 16 Länder mit entsprechenden Regelungen reagiert, soweit sie das nicht schon vorher getan hatten. Und auch die zweite Vereinbarung, die weitergehende Maßnahmen vorsieht, haben die Bundesländer in der Zwischenzeit umgesetzt. Die jeweiligen Landesverordnungen unterscheiden sich jedoch weiterhin in vielen Punkten, wie z.B. eine Übersicht der taz vom 28.3.2020 illustriert.

Im IfSG sind außerdem Zuständigkeiten für das Robert Koch-Institut und das Bundesgesundheitsministerium geregelt. Das Robert Koch-Institut hat gemäß § 4 IfSG die Aufgabe, Konzepte zur Vorbeugung und frühzeitigen Erkennung sowie Verhinderung übertragbarer Krankheiten zu entwickeln. Auf Ersuchen der Landesgesundheitsbehörden berät es auch zu konkreten Maßnahmen in den einzelnen Ländern. Gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium ist es gemäß § 5 IfSG auch am Bund-Länder-Informationsaustausch beteiligt. Ziel dieses Verfahrens ist es unter anderem bei gehäuftem Auftreten bedrohlicher Krankheiten die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Das Bundesgesundheitsministerium muss daher über verschiedene Entwicklungen informiert werden. Die Einzelheiten sind in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die Koordinierung des Infektionsschutzes in epidemisch bedeutsamen Fällen geregelt.

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Am 25. März 2020 hat der Bundestag im Schnellverfahren Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beschlossen. Ergänzt wurde § 28 des Gesetzes, auf den sich die vielen Freiheitsbeschränkungen stützen, die wir im Frühjahr 2020 erlebten und gerade wieder erleben. Diese Ergänzung ist unbefriedigend, weil sie nach wie vor viel zu unbestimmt ist. Eine zunächst vorgesehene Ergänzung zur Verarbeitung von Handystandortdaten, die aus unserer Sicht verfassungswidrig gewesen wäre, zog die Bundesregierung nach heftiger Kritik wieder zurück.

Herzstück der Gesetzesänderung sind allerdings zahlreiche neue Befugnisse für das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Falle einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Das ist eine neue Form des Ausnahmezustands, über dessen Feststellung der Bundestag entscheidet (§ 5 Absatz 1 IfSG). Liegt eine epidemische Lage nach Ansicht des Bundestages vor, darf das BMG von Menschen, die nach Deutschland einreisen wollen, verschiedene Auskünfte etwa zu ihrem Impfschutz und ihrer Gesundheit verlangen und darf sie untersuchen lassen (§ 5 Absatz 2 Nr. 1). Das BMG darf auch Unternehmen im grenzüberschreitenden Verkehr wie Fluggesellschaften die Beförderung aus bestimmten Staaten nach Deutschland untersagen und die Übermittlung von Daten über Reisegäste verlangen (Nr. 2). Oder es darf anordnen, dass ein Patent etwa für einen Impfstoff im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt genutzt werden kann (Nr. 5). Der Bundestag hat am 25. März 2020 das Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Am 17. September 2020 lehnte der Bundestag einen Antrag der FDP-Fraktion ab, das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite festzustellen; damit gilt sie nach wie vor.

Besonders problematisch sind aber die Ermächtigungen des BMG, Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrats zu erlassen, mit denen das Ministerium von zahlreichen Gesetzen vorübergehend abweichen darf. Zur Disposition stehen das Arzneimittelgesetz, das Betäubungsmittelgesetz, das IfSG selbst und viele weitere Bestimmungen. Das verkehrt das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung; denn eigentlich bestimmt das Gesetz, das das Parlament beschließt, die Grenzen einer Verordnung, die die Regierung erlässt, nicht umgekehrt.

In der Summe wird damit in dem Moment, in dem eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt wird, sehr viel Macht in einer einzelnen Behörde – bzw. in ihrer Spitze, dem*der Minister*in – konzentriert, die bislang in verschiedenen Beziehungen geteilt war: Zwischen dem BMG und anderen Bundesministerien bzw. der Bundesregierung als ganzer; zwischen dem Bund und den Ländern; und vor allem zwischen der Exekutive und dem Gesetzgeber. Was also bislang verschiedene Organe intensiv ausgehandelt haben, liegt für die Dauer einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in den Händen eines einzigen.

Diese fundamentalen Verschiebungen in der Gewaltenteilung unserer föderalen Demokratie gehören schnellstmöglich auf den Prüfstein. Das haben wir bereits im Frühjahr 2020 gesagt und gilt nun erst recht. Wir halten es für unbedingt erforderlich, dass sich das Parlament selbst eingehend damit befasst, unter welchen Bedingungen welche Behörde von welchen Gesetzen auf welche Weise abweichen darf. Diese Arbeit hätte längst beginnen sollen und ist nun schleunigst nachzuholen. Dass das Parlament auch in der Krise arbeitsfähig ist, hat es mit seinen umfangreichen Gesetzesbeschlüssen Ende März bewiesen. Über den relativ entspannten Sommer war erst recht viel Zeit dafür.

Das Ende März beschlossene Gesetz enthält noch viele weitere Bestimmungen. Darunter sei hier noch eine hervorgehoben: Die Gesundheitsämter können künftig vom Bundeskriminalamt Daten zu Fluggästen anfordern, sofern eine Fluggesellschaft diese Daten nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vollständig freiwillig übermittelt. Hintergrund ist, dass das Bundeskriminalamt seit 2018 die Fluggastdaten aller Menschen sammelt, die nach oder von Deutschland fliegen. Diese anlasslose Fluggastdatenverarbeitung halten wir für grundrechtswidrig und haben wir deshalb vor den Europäischen Gerichtshof gebracht. Ob es in Ausnahmesituationen wie einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite sinnvoll ist, Fluggastdaten auszuwerten, wird eingängiger zu diskutieren sein. Jedenfalls zeigt die neue Befugnis einmal mehr, dass einmal erhobene Daten immer unvorhergesehene Begehrlichkeiten wecken.

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Der Landtag des Freistaates Bayern hat am 25. März 2020 ein bayerisches Infektionsschutzgesetz verabschiedet. Das Gesetz beinhaltet Regelungen, die die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sicherstellen sollen, vor allem durch Material- und Personalbeschaffung. Beispielsweise werden Behörden ermächtigt, medizinisches Material (Atemschutzmasken etc.) zu beschlagnahmen oder auch ein Verkaufsverbot auszusprechen. Außerdem wird die Möglichkeit geregelt, Menschen zu Dienstleistungen zu verpflichten, etwa Ärzt*innen und Pfleger*innen im Ruhestand zur Mithilfe im Gesundheitssystem.

Hat Bayern die nötige Gesetzgebungskompetenz?

Problematisch an dem Gesetz ist, dass es bereits ein Infektionsschutzgesetz des Bundes gibt. Daher ist es fraglich, ob der Freistaat Bayern tatsächlich die Gesetzgebungskompetenz für ein eigenes Infektionsschutzgesetz hat. Sollte er keine Gesetzgebungskompetenz haben, wäre das bayerische Infektionsschutzgesetz verfassungswidrig. Weil aber nur das Bundesverfassungsgericht Gesetze verwerfen kann, ist es erst einmal wirksam.

Im Grundgesetz ist geregelt, dass Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung sind (Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 GG). Das bedeutet, dass die Länder nur Gesetze erlassen dürfen, „solange und soweit“ der Bund eine Materie (noch) nicht geregelt hat (Artikel 72 Absatz 1 GG). Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz durch das Bundesinfektionsschutzgesetz Gebrauch gemacht, welches gerade geändert wurde. Bayern kann also nur Regelungen treffen, soweit dadurch die Materie nicht abschließend geregelt ist.

Die Begründung des bayerischen Infektionsschutzgesetzes lautet denn auch, dass der Bund den Infektionsschutz nicht abschließend geregelt hat, da er zwar Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von Krankheiten getroffen hat, aber eben keine zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Das ließe sich allenfalls mit dem Argument vertreten, dass es im Bundesinfektionsschutzgesetzes deutlich stärker darum gehe, die Verbreitung einer Krankheit zu verhindern, durch Quarantäne, Beobachtung oder Tätigkeitsverbote.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages kam jedoch kürzlich zu einem anderen Ergebnis: In einem demLegal Tribune Online vorliegenden Gutachten kamen die Jurist*innen des Bundestages zu dem Ergebnis, dass § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG eine Sperrwirkung in Bezug auf Regelungen zur Versorgung der Bevölkerung mit medizinischem und sanitärem Material bewirke. Durch den Umstand, dass der Bund diesen Sachbereich nicht geregelt habe, habe er zum Ausdruck gebracht, dass er entsprechenden Maßnahmen im Ergebnis ablehnend gegenüberstehe. Würde sich die Auffassung des wissenschaftlichen Dienstes bei einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzen, würde drohen, dass das bayerische Infektionsschutzgesetz in großen Teilen nichtig ist.

Damit steht das bayerische Infektionsschutzgesetz also schon hinsichtlich der bayerischen Gesetzgebungskompetenz auf einem sehr wackeligen Fundament.

Wann ist das neue Gesetz anwendbar?

Das bayerische Infektionsschutzgesetz ist seit dem 27. März und, dies beruht auf einer Änderung im Gesetzgebungsverfahren, nur bis zum 31. Dezember 2020 in Kraft. Es gilt nur bei einem „Gesundheitsnotstand“, nämlich wenn in Folge der Verbreitung einer Krankheit die Versorgungssicherheit des öffentlichen Gesundheitssystems ernstlich gefährdet ist (Artikel 1 Absatz 1 BayIfSG). Dieser enge Anwendungsbereich dürfte verhindern, dass etwa bei zukünftigen Grippewelle Maßnahmen auf das neue Gesetz gestützt werden. Der Gesundheitsnotstand muss von der Landesregierung festgestellt werden, also dem Kabinett als Kollektivorgan, und er kann durch diese sowie durch Landtagsbeschluss beendet werden (Artikel 1 Absatz 1 BayIfSG).

Welche Regelungen sieht das Gesetz vor?

Besonders grundrechtsrelevant ist die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit, Menschen entsprechend ihrer Ausbildung zu Dienstleistungen im Gesundheitssystem heranzuziehen – soweit sie dadurch nicht unverhältnismäßig in ihrer Gesundheit oder körperlichen Unversehrtheit gefährdet werden (Artikel 6 BayIfSG). Denkbar wäre im Zusammenhang der Corona-Pandemie etwa, dass Ärzt*innen und Pfleger*innen im Ruhestand zur Mithilfe im Gesundheitssystem herangezogen würden. Solche Dienstleistungspflichten müssen sich an Artikel 12 Absatz 2 GG messen, welcher zwar Zwangsarbeit verbietet, davon aber „allgemeine und gleiche Dienstpflichten“ ausnimmt. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen – nicht wirklich allgemeinen, und deshalb problematischen – Dienstpflicht erfahren Sie mehr in unserem Text zur Verfassungsmäßigkeit von Zwangsdiensten.

Zudem sind Maßnahmen geregelt, welche die Versorgung mit Material sicherstellen sollen. So können Behörden bei Menschen oder Einrichtungen, die Atemmasken in größerem Umfang vorrätig haben, diese zukünftig beschlagnahmen. Teilweise haben diese Regelungen die Befürchtung hervorgerufen, dass Behörden nun auch bei Gesundheitseinrichtungen die für Personal vorgesehene Schutzkleidung beschlagnahmen könnten. Auch „hortende“ Privatpersonen könnten theoretisch betroffen sein, dahingehend wird der Regelung vermutlich eher symbolische Bedeutung haben.

Für Dienstleistungen wie für Beschlagnahmen ist außerdem eine Pflicht zur Entschädigung der Betroffenen geregelt, wenn diese enteignende Wirkung hat (Artikel 7 BayIfSG).

Stichwahlen in der Bayerischen Kommunalwahl per Briefwahl

Schließlich wurde im gleichen Gesetzgebungsverfahren das Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz geändert und geregelt, dass die Stichwahl bei den Bayerischen Kommunalwahlen am 29. März 2020 ausschließlich per Briefwahl durchgeführt wird. Briefwahlen sind verfassungsrechtlich nicht unproblematisch, weil Wahlen „geheim“ und „frei“ durchgeführt werden müssen (Artikel 38 Absatz 1 GG). Denn es lässt sich nicht sicherstellen, dass alle die Möglichkeit haben, unbeobachtet und unbeeinflusst ihre Stimme abzugeben. Die Wahlrechtsgrundsätze lassen sich nie in Reinform verwirklichen und der Gesetzgeber hat vor dem Hintergrund der mit den Wahlrechtsgrundsätzen verfolgten demokratischen Prinzipien einen gewissen Spielraum bei der Organisation von Wahlen. Einiges spricht dafür, dass die Durchführung einer regulären Wahl aktuell aufgrund des damit verbundenen Risikos der Verbreitung des Corona-Virus mit unverhältnismäßigen Risiken für Gesundheit und Leben der Bevölkerung verbunden wäre. Deshalb muss der Bayerische Landtag zwischen den mit einer Briefwahl einhergehenden Einbußen bei der Geheimheit und Freiheit der Wahl und einem Verschieben der Wahl auf einen unbestimmten Zeitpunkt abwägen.

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Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Wie in zahlreichen anderen europäischen Staaten waren auch in Deutschland seit dem 20. März an vielen Grenzen nur noch bestimmte Übergänge offen, die streng kontrolliert werden – ein Vorgehen, das im Schengen-Raum nur in Ausnahmesituationen zulässig ist. Allerdings ist es fraglich, ob Grenzkontrollen überhaupt zur Eindämmung der Corona-Pandemie beitragen können. Gerade schutzsuchende Menschen dürfen auch im Notstands- oder Katastrophenfall nicht pauschal abgewiesen werden.

Nach einer Entscheidung des Bundesinnesministeriums (BMI) ließ die Bundespolizei an den Grenzübergängen zu Österreich, Frankreich, Luxemburg, Dänemark und in die Schweiz nur noch Reisende mit triftigem Reisegrund und ohne Krankheitssymptome passieren. Was private „triftige Reisegründe“ sind, überließ das BMI dem Ermessen der Beamten vor Ort. Zulässig waren außerdem der grenzüberschreitende Warenverkehr und Reisen aus berufsbedingten Gründen sowie der Grenzübertritt für die Rückkehr in einen EU-Heimatstaat. Diese Reisebeschränkungen galten ebenso für den Flug- und Schiffsverkehr nach Österreich, Spanien, Italien, Luxemburg, Dänemark und in die Schweiz, sowie für den Fern- und Regionalverkehr mit der Bahn.

Anders als das BMI hatte die EU-Kommission dringende private Gründe für einen Übertritt der EU-Außengrenzgen definiert: Ein- oder ausreisen durften Menschen aus zwingenden familiären Gründen sowie Schutzsuchende. Die Bundespolizei schien sich allerdings nicht an diesen Leitlinien zu orientieren. Asylsuchende wurden Presseberichten zufolge pauschal abgewiesen. Darüber hinaus waren auch Besuchsreisen zu Ehepartner*innen oder zum sorgeberechtigen Kind laut Bundespolizei nicht gestattet.

Von den Einreisebeschränkungen zu trennen ist die Frage nach der Zulässigkeit von Kontrollen an den deutschen Landesgrenzen zu anderen EU-Staaten. Nach dem Schengener Grenzkodex dürfen vorrübergehende Grenzkontrollen nur eingeführt werden, wenn „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ ist (Artikel 25). Es müssen „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen und Kontrollen dürfen nur das letzte Mittel der Wahl sein (Artikel 25 Absatz 2). Zudem gilt eine zeitliche Begrenzung von höchstens 30 Tagen oder für die Dauer der ernsthaften Bedrohung, bei einer Bedrohung für die gesamte EU von höchstens 6 Monaten.

Die Grenzkontrollen an den Landesgrenzen sind seit Juni 2020 aufgehoben. Die Reisebeschränkungen gegenüber Drittländern wurden allerdings nur teilweise aufgehoben. Im Allgemeinen ist die Einreise für Reisende aus Drittstaaten nur bei Vorliegen eines wichtigen Reisegrundes möglich. Davon ausgenommen sind Länder mit einem sehr geringen Infektionsgeschehen. In jedem Fall gelten bei Einreisen aus Risikogebieten Quarantäne- und Testpflichten (mehr dazu unter “Häusliche Quarantäne”).

Der Deutsche Bundestag hat mit Gesetz vom 18. November 2020 das Infektionsschutzgesetzes (IfSG) geändert und u.a. einen neuen § 28a IfSG eingeführt. § 28a IfSG enthält einen beispielhaften Katalog von Schutzmaßnahmen, die zuständige Behörden sowie die Landesregierungen ergreifen können, um die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern. § 28a IfSG präzisiert damit die gesetzliche Grundlage für Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie.

Bislang stützten die Länderregierungen die Rechtsverordnungen zur Eindämmung von COVID-19 auf eine Generalklausel in §§ 28 Abs. 1, 32 IfSG. Diese sehr pauschale Regelung ermächtigt die Landesregierungen, die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ zur Eindämmung übertragbarer Krankheiten zu treffen. Was genau unter diesem unbestimmten Begriff zu verstehen ist definierte das Gesetz nicht. Rechtswissenschaftler*innen und Gerichte haben in den vergangenen Monaten kritisiert, dass die erheblichen Grundrechtseinschränkungen durch die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie eine präzisere gesetzliche Grundlage erfordern. Mit der Einführung von § 28a IfSG hat der Bundestag auf diese Kritik reagiert und den Rechtsbegriff der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ präzisiert. § 28a IfSG listet beispielhaft, aber nicht abschließend auf, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie möglich sind. Das stärkt die demokratische Legitimation der Maßnahmen der Länder, weil das Parlament einen Katalog von denkbaren Beschränkungen ausdrücklich gebilligt hat. Grundrechte werden durch dieses Gesetz nicht abgeschwächt oder gar beseitigt, das Gesetz erlaubt nur, dass durch bestimmte Maßnahmen in Grundrechte eingegriffen wird – wie es seit März 2020 geschieht.

Der gesetzliche Katalog enthält eine Liste von 17 Maßnahmen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um die Maßnahmen, die in den letzten acht Monaten von Behörden auf kommunaler und auf Landesebene ergriffen wurden. Die Neuregelung im Infektionsschutzgesetz ordnet diese Maßnahmen nicht unmittelbar an, sondern stellt klar, dass die Länder berechtigt sind, die genannten Maßnahmen zu ergreifen. Daher greift der Katalog als solcher auch nicht in Grundrechte ein; am Maßstab der Grundrechte und insbesondere der Verhältnismäßigkeit sind stets die einzelnen Maßnahmen zu messen, die auf der Grundlage des Katalogs ergehen. Zu den Maßnahmen aus dem Katalog zählen beispielsweise das Abstandsgebot im öffentlichen Raum, die Maskenpflicht, Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen, aber auch Reisebeschränkungen und Ähnliches. Eine Hierarchie zwischen den Maßnahmen gibt das Gesetz nicht vor. Da der Katalog nicht abschließend ist, können die Länder weiterhin auch Maßnahmen vorsehen, die im Katalog nicht genannt sind. Das Gesetz schreibt ausdrücklich vor, dass die Verordnungen begründet werden müssen. Verordnungen sind zudem zwingend zeitlich befristet. In der Regel beträgt die Geltungsdauer vier Wochen, wobei eine Verlängerung möglich ist. Das sind für die Grundrechte der Bürger*innen zu begrüßende Vorgaben.

Fachleute hatten in den letzten Monaten zunehmend thematisiert, warum eine gesetzliche Konkretisierung erforderlich ist und wie eine Neuregelung aussehen solle. Die Rechtswissenschaft war sich weitgehend einig darüber, dass eine Neuregelung notwendig sei und der Handlungsbedarf mit fortschreitender Zeit dringlicher werde. Im Bundestag herrschte gleichwohl für längere Zeit Uneinigkeit über die Erforderlichkeit einer entsprechenden Anpassung. Nachdem aber auch in der Rechtsprechung die Frage nach der gesetzlichen Legitimation von Verordnungen in den Vordergrund rückte, setzte sich in der Großen Koalition die Auffassung durch, die Maßnahmen müssten im Gesetz konkreter benannt werden. Daraufhin erfolgte die Änderung des Infektionsschutzgesetzes in bemerkenswerter Geschwindigkeit: Der Gesetzentwurf wurde am 6. November 2020 eingebracht, das Gesetz schon am 18. November 2020 beschlossen. Das schnelle Handeln ist insofern positiv zu bewerten, als die Neuregelung grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Bedürfnissen Rechnung trägt und es der Dringlichkeit der Aufgabe gerecht wird. Der Wortlaut des ursprünglichen Gesetzentwurfs war kritikwürdig, da er schwer verständlich war. Das führte zu zahlreichen Missverständnissen bis hin zur Sorge, Grundrechte würden vollends abgeschafft. Der Gesetzgeber hat die wesentliche Kritik am Gesetzentwurf ernst genommen; die letztlich verabschiedete Fassung des § 28a IfSG berücksichtigt einige Forderungen von Sachverständigen. Dennoch wirft es einen Schatten auf den Gesetzgebungsprozess, dass die Neuregelung breiter hätte diskutiert werden können, wenn der Gesetzgeber sich der Aufgabe früher angenommen hätte – spätestens in der Sommerpause.

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 28.10.2020

Die Zunahme schwerer, durch das Corona-Virus verursachter Erkrankungsfälle wird das deutsche Gesundheitssystem an die Grenzen seiner Kapazitäten bringen. Es ist möglich, dass es zu Situationen kommen wird, in denen das medizinische Personal auswählen muss, welche Personen die lebensnotwendige intensivmedizinische Behandlung bekommen – und damit anderen Personen zugleich diese Behandlung zu versagen (sogenannte „Triage“). Eine gesetzliche Regelung, welche Auswahlkriterien diese schwierige Entscheidung leiten sollen, fehlt bislang. Allerdings haben sieben ärztliche Fachgesellschaften dazu inzwischen klinisch-ethische Empfehlungen (2. Fassung vom 17.4.2020) herausgegeben. Zudem hat der Deutsche Ethikrat sich in einer ad-hoc-Empfehlung geäußert. Im Oktober 2020 hat die Konrad-Adenauer-Stiftung die Ergebnisse einer Befragung europäischer Intensivmediziner*innen veröffentlicht.

Die Regelung der Triage, die tief in die wichtigsten Grundrechte der unmittelbar betroffenen Personen eingreift, muss der Gesetzgeber treffen. Dem Grundgesetz lässt sich lediglich entnehmen, dass bestimmte Regelungsmodelle verfassungswidrig sind. Eine gesetzliche Regelung, welchen Auswahlkriterien die Triage zu folgen hat, müsste sich an der Garantie der Menschenwürde (Artikel 1 Abs. 1 GG) und am sich daraus ableitenden Diskriminierungsverbot (Artikel 3 Abs. 3, Abs. 1 GG) messen lassen.

Welche Anknüpfungspunkte für eine Triage sind nach deutschem Verfassungsrecht ausgeschlossen?

Offensichtlich verboten wäre es, Menschen aufgrund von „Rasse“ oder sozialem Status auszuwählen (Artikel 3 Abs. 3 GG). Wenngleich eine unmittelbar an diesen Merkmalen anknüpfende Selektion aktuell undenkbar ist, ist es dennoch nicht müßig, diese Verbote zu wiederholen: Strukturelle Diskriminierung von Menschen aufgrund dieser Merkmale lässt sich auch in Deutschland in allen Lebensbereichen nachweisen. Auch beim Zugang zu Gesundheitsversorgung ist es zentral, dass alle Beteiligten eigene, zumeist unbewusste Denkmuster und Vorannahmen kritisch hinterfragen und beispielsweise geschilderte Krankheitsverläufe gleichermaßen ernst nehmen.

Weiter dürfen Entscheidungskriterien Menschen nicht wegen Merkmalen der Behinderung (Artikel 3 Abs. 3 Satz 3 GG) oder ihres Alters (Artikel 3 Abs. 1 GG) diskriminieren. Eindeutig verfassungswidrig wäre daher z.B. eine Regelung, die eine Auswahl zuließe, die sich direkt an Alter oder Behinderungen der behandlungsbedürftigen Personen orientierte. Sehr problematisch sind aber auch Regelungen, die zwar nicht direkt an Alter oder Behinderungen anknüpfen, aber praktisch besonders alte oder behinderte Menschen betreffen. Das ist etwa der Fall, wenn sich die Triage (auch) nach der prognostizierten Restlebensdauer richten soll. Denn ein solches Kriterium benachteiligt strukturell natürlich alte Menschen und solche mit bestimmten Vorerkrankungen und Behinderungen.

Das Kriterium prognostizierter Restlebensdauer ist aber nicht nur diskriminierungsanfällig, sondern auch schwer mit dem Konzept der Menschenwürde des Grundgesetzes vereinbar. Menschliche Würde heißt, dass jedem Menschen um seiner selbst willen ein von der staatlichen Gewalt unbedingt zu achtender Wert zukommt. Die Menschenwürde verbietet damit rechtliche Regelungen, die ein Menschenleben für weniger wertvoll erklären als ein anderes. Der Gesetzgeber darf daher nicht die Rettung des Lebens eines jungen Menschen um den Preis des Lebens eines alten Menschen anordnen. Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner – nicht unumstrittenen – Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz von 2006 festgestellt, dass der Schutz des Lebens von Menschen nicht deshalb weniger wert sei, weil diese ohnehin dem Tod geweiht seien: „Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz“ (BVerfGE 115, 118, Rn. 132). Mit dieser Rechtsprechung lässt es sich schlecht vereinbaren, dass eine Auswahl nach verbleibender Restlebensdauer eine Wertigkeit vornimmt und dem Leben von Menschen, das voraussichtlich noch länger dauern wird, den Vorzug gibt. Verfassungsrechtler*innen gehen deshalb mehrheitlich davon aus, dass Restlebensdauer kein nach dem Grundgesetz zulässiges Kriterium ist (s. Prof. Mathias Hong auf dem Verfassungsblog sowie Prof. Till Zimmermann auf LTO).

Schließlich wäre auch eine Regelung, nach der die einmal begonnene, lebensnotwendige und weiterhin nicht aussichtslose Behandlung eines Menschen abgebrochen würde, um eine andere Person zu retten, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mit der Menschenwürde vereinbar. In seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz hat es nämlich entschieden, dass der Gesetzgeber nicht die Tötung unschuldiger Menschen an Bord eines entführten Flugzeugs gebieten darf, selbst wenn damit verhindert würde, dass bei einem terroristischen Anschlag nicht nur die Leben der an Bord befindlichen, sondern zusätzlich eine größere Anzahl von Menschen mit in den Tod gerissen würden (BVerfGE 115, 118). Im Kern beziehen sich die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts damit nur auf gesetzliche Regelungen, die eine gezielte Tötung von unschuldigen Menschen durch aktives Tun zur Rettung anderer erlauben. Diese Konstellation ist mit der Situation auf einer Intensivstation vergleichbar, wenn die lebensnotwendige medizinische Behandlung einer Person bereits begonnen wurde, nun aber eine andere behandlungsbedürftige Person eingeliefert wird, deren Behandlung gesetzlich aus bestimmten Erwägungen für vorrangig erklärt wird. Dieser Wertung hat sich auch der Deutsche Ethikrat angeschlossen.

Wenn die klinisch-ethischen Empfehlungen gleichwohl auch in dieser Situation eine Priorisierung vorsehen, so bewegen sie sich damit in verfassungsrechtlicher Hinsicht auf einem sehr schmalen Grat. Wird die – noch einmal: nicht unumstrittene – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ernst genommen, dürfte der Gesetzgeber eine solche Regelung nicht erlassen. Eine individuell verantwortete Gewissensentscheidung kann anderen Grundsätzen folgen und mag dennoch rechtmäßig sein (zu den möglichen strafrechtlichen Konsequenzen für medizinisches Personal siehe unten). Abstrakt-generelle Richtlinien von Standesverbänden sollten aber selbst dann keine verfassungswidrigen Auswahlkriterien enthalten, wenn klar ist, dass es sich dabei lediglich um Empfehlungen für das medizinische Personal ohne rechtliche Bindungswirkungen handelt.

Welche verfassungsrechtlich zulässigen Kriterien für eine Triage werden diskutiert?

Verfassungsrechtlich herrscht darüber hinaus wenig Eindeutigkeit. Es kann hier daher nur der Stand der aktuellen verfassungsrechtlichen Diskussion umrissen werden.

Zulässig scheint es zunächst, Menschen von einer Versorgung auszuschließen, bei denen auch bei Behandlung keine realistische Überlebenschance bestehen („Aussichtslosigkeit“, so auch die ethisch-klinischen Empfehlungen). Als mögliche Kriterien werden sodann verfassungsrechtlich folgende Möglichkeiten diskutiert: Die Maximierung der Zahl von Menschenleben durch das Kriterium der „Überlebenswahrscheinlichkeit“, eine zeitliche Priorität und ein reines Zufallsprinzip.

Der ethisch-klinischen Empfehlung der ärztlichen Fachgesellschaften und wohl auch der Praxis in der Schweiz liegt die Prämisse zugrunde, die Zahl der zu rettenden Menschenleben zu maximieren („Rettungseffizienz“). Deshalb schlägt sie vor, in der Gruppe der Patient*innen, die einer Priorisierung überhaupt offenstehen, die individuelle Überlebenswahrscheinlichkeit der Behandlung bei Einsatz intensivmedizinischer Behandlung als Entscheidungskriterium heranzuziehen.

Inwiefern sich Grundsätze aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz zur verfassungsrechtlichen Beurteilung dieses Kriteriums heranziehen lassen, ist schwierig und wird unterschiedlich beurteilt. Direkt übertragbar sind sie nicht, denn in diesem Fall ordnete eine gesetzliche Regelung nicht die Tötung einer Person durch aktives Tun zur Rettung einer anderen Person an, sondern träfe nur eine Entscheidung, welche Person gerettet werden muss. Auch wird durch das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit keine Wertigkeit zwischen verschiedenen Menschenleben vorgenommen, sondern lediglich der Versuch unternommen, durch effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden Kapazitäten zahlenmäßig möglichst viele Menschenleben zu retten (für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit deshalb Prof. Mathias Hong auf Verfassungsblog).

Dem kann entgegengehalten werden, dass die Menschenwürde auch eine zahlenmäßige Abwägung oder Aufrechnen von Leben gegeneinander ausschließen soll: Ein Menschenleben ist nicht weniger wert als zwei. Deshalb, so lässt sich argumentieren, ist ein Mensch mit höherer Überlebenschance nicht schutzwürdiger als ein anderer, nur weil möglicherweise die Zahl der geretteten Menschenleben erhöht wird. Zudem birgt auch das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit die Gefahr einer mittelbaren Diskriminierung von Menschen höheren Alters oder mit Vorerkrankungen und Behinderungen, soweit sich diese auf die Überlebenschance auswirken. Im Einzelfall kann das dazu führen, dass ältere, vorerkrankte oder behinderte Personen im Wettbewerb um die besseren Überlebenschancen schlechte Chancen hätten (deutlich kritischer hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit deshalb Prof. Till Zimmermann auf LTO).

Verfassungsrechtlich diskutiert wird deshalb zudem, unter den Patient*innen völlige Chancengleichheit herzustellen, und zum Beispiel einzig nach zeitlicher Priorität zu gehen und dabei allenfalls diejenigen auszuschließen, bei denen eine Behandlung keine Erfolgsaussicht hat. Ergebnis wäre dann, dass bei einer solchen Herangehensweise zahlenmäßig möglicherweise weniger Menschen überleben. Auch könnte es sein, dass einem ansonsten gesunden Dreißigjährigen die Behandlung versagt werden muss, und einer vorerkrankten Achtzigjährigen der Vortritt zu gewähren ist. Dafür findet aber keine Abwägung von Menschenleben gegeneinander statt und jede einzelne Person hat eine gleiche Chance auf Behandlung, auch wenn ihre Überlebenschancen aufgrund von Alter, Erkrankungen oder Behinderungen geschmälert sind. Aus gleichen Gründen ist auch ein reines Zufallsprinzip denkbar, in Reinform oder gegebenenfalls ergänzend, wenn eine zeitliche Priorität nicht festgestellt werden kann.

Macht sich medizinisches Personal strafbar, wenn es nach unzulässigen Kriterien eine Auswahl unter Patient*innen trifft?

Während der Staat also aufgrund seiner Grundrechtsbindung bestimmte Auswahlkriterien nicht gesetzlich anordnen darf, sagt diese Wertung noch nichts darüber aus, ob medizinisches Personal, das nach diesen Kriterien handelt, sich strafbar macht.

Wenn es um die Auswahl der Personen geht, bei denen eine Behandlung begonnen werden soll, also zwei gleichrangige Pflichten zur Lebensrettung miteinander kollidieren, dann macht sich medizinisches Personal weder eines Tötungsdelikts noch einer unterlassenen Hilfeleistung strafbar. Das gilt selbst dann, wenn diese Entscheidung auf der Grundlage von Kriterien erfolgt, die verfassungsrechtlich unzulässig wären. Denn das Strafrecht verlangt nur, dass die behandelnden Personen einen der beiden Kranken retten, nicht, dass ihre Auswahl auch den Maßstäben folgt, die verfassungsrechtlich an das Handeln des Staates anzulegen sind.

Darf das medizinische Personal eine einmal begonnene lebenserhaltende Behandlung eines Menschen abbrechen, um eine andere Person zu retten?

Anders fällt die rechtliche Bewertung aus, wenn die medizinische Behandlung einer Person bereits begonnen und diesem Menschen dadurch eine konkrete Überlebenschance eröffnet wurde. Wenn ein Mensch zum Beispiel an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird und damit sein Überleben nicht ausgeschlossen ist, dann ist das Ausschalten dieses Geräts, um damit ein anderes Menschenleben zu retten, als aktive Tötung verboten. Weil Menschenleben gleichwertig sind, scheidet insbesondere ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB aus (so auch Prof. Hilgendorf auf LTO). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit dem Behandlungsabbruch in Konstellationen der Sterbehilfe (BGH, NJW 2010, 2963). Diese Rechtsprechung bezieht sich auf Fälle, in denen der Wille des*r Patient*in feststeht, die medizinische Behandlung nicht fortzusetzen und zu sterben. Sie ist deshalb nicht übertragbar (hierzu s. Prof. Reinhard Merkel in der FAZ; anders aber anscheinend Prof. Elisa Hoven im FAZ Einspruch).

Ob die Strafbarkeit solcher Tötungshandlungen dennoch ausnahmsweise entfällt, weil das medizinische Personal in einer Situation des sogenannten „übergesetzlichen Notstands“ handelt und eine ethisch vertretbare Entscheidung getroffen hat, wird unterschiedlich beurteilt, ist aber eher zweifelhaft.

Deshalb ist es ausgesprochen problematisch, dass die ethisch-klinischen Empfehlungen eine Triage auch bei begonnener Behandlung vorschlagen (s. klinisch-ethische Empfehlungen, S. 8 f.): Medizinisches Personal, das diesen Empfehlungen folgt, setzt sich einem beträchtlichen strafrechtlichen Risiko aus.

Wer ist zuständig für eine Entscheidung über die Kriterien der Auswahl – ärztliche Fachgesellschaften, Bundestag oder Länderparlamente?

Es ist nicht nur verständlich, sondern lobenswert, dass ärztliche Fachgesellschaften nun Empfehlungen abgeben, um Kolleg*innen mit zukünftig möglicherweise anstehenden, menschlich schwierigen Entscheidungen nicht allein zu lassen. Verfassungsrechtlich ist das aber nicht unproblematisch. Es spricht nämlich einiges dafür, dass es eine staatliche („hoheitliche“) Aufgabe ist, Kriterien zu entwickeln, anhand derer zu rettende Menschen ausgewählt werden. Soweit nämlich im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge über Menschenleben entschieden wird, besteht eine dahingehende grundrechtliche Schutzpflicht aus dem Recht auf Leben und der Menschenwürde (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 iVm Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 GG). Der Staat muss sicherstellen, dass die Entscheidungskriterien diese Grundrechte ausreichend berücksichtigen. Die Verfassung macht dabei keine eindeutigen Vorgaben, sondern lässt dem Gesetzgeber einen Spielraum.

Für positive Handlungsanweisungen an das Krankenhauspersonal ist in Ermangelung spezieller Zuständigkeiten des Bundes und aufgrund der Sachnähe zur Gesundheitsversorgung eine Zuständigkeit der Landesgesetzgeber nach Artikel 70 Abs. 1 GG naheliegend. Durch Änderungen im Strafgesetzbuch könnte der Bundestag jedoch die Strafbarkeit ärztlichen Handelns ändern und zum Beispiel spezielle Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe für medizinisches Personal regeln, wenn diese im Rahmen eines „Gesundheitsnotstandes“ eine begonnene Behandlung bei einer*m Patient*in zugunsten eines*r anderen beenden.

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 28.10.2020

Alle Menschen in Deutschland haben ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, abgeleitet aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen und materielle Unterstützung gewähren, wenn jemandem die für ein menschenwürdiges Dasein notwendigen materiellen Mittel fehlen (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 -, Rn. 134). Zudem hat sich die Bundesregierung mit dem UN-Sozialpakt zur Gewährleistung spezifischer sozialer Rechte verpflichtet, darunter auch das Recht auf angemessene Lebensbedingungen, einschließlich einer angemessenen und geschützten Unterkunft.

Freiberufler*innen und Solo-Selbstständige sind besonders von den derzeitigen staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona betroffen. Veranstaltungen müssen abgesagt werden, Sportstudios und kleine Geschäfte müssen schließen: Wer als freiberufliche*r Fotograf*in, Eventmanager*in, Yogalehrer*in oder als Blumenlieferant*in keine Rücklagen bilden konnte, steht derzeit vor existenziellen Problemen. Auch Arbeitnehmer*innen sind betroffen. Gerade in kleineren Betrieben können Lohnfortzahlungen bei Arbeitsausfall wegen Schließungen oder Kinderbetreuung nicht garantiert werden. Viele Betroffene fragen sich, wie sie im nächsten Monat die Miete und andere laufende Ausgaben zahlen sollen. Das Infektionsschutzgesetz sieht nur in sehr begrenztem Umfang Entschädigungen für Infektionsschutzmaßnahmen vor. Nach § 56 können Erkrankte oder Krankheitsverdächtige, denen eine Quarantäne oder ein Berufsverbot verordnet wurde, eine Entschädigung für Verdienstausfälle erhalten. Aber die meisten Menschen sind nicht von solchen Einzelfallanordnungen, sondern von den allgemeinen Schließungsanordnungen betroffen. Um dem verfassungsrechtlich verbürgten Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in der Krise zur Wirksamkeit zu verhelfen, bedurfte – und bedarf es nun wieder – schneller und unbürokratischer Hilfen. In der Wahl der Mittel sind die Bundesregierung, Landesregierungen und Kommunen frei. Die Mittel müssen jedoch geeignet sein, allen Menschen in Deutschland eine menschenwürdige Existenz zu sichern – trotz sinkender Bearbeitungskapazitäten und einer akut steigenden Anzahl der von Armut Betroffenen.

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

In Zeiten von Quarantäne und Ausgangsbeschränkungen sind stabile und angemessene Wohnverhältnisse besonders wichtig. Das Recht auf eine angemessene Unterkunft ist in Artikel 11 Absatz 1 des UN-Sozialpakts garantiert. Dazu gehört nach den Empfehlungen des UN-Sozialausschusses neben dem Schutz vor Zwangsräumungen auch die ausreichende Versorgung mit Wasser, Heizung und Strom. Auch das grundrechtlich garantierte Existenzminimum schließt eine angemessene Unterkunft mit ein (vgl. BVerfGE, 9. Februar 2010- 1 BvL 1/09 -, Rn. 135). Eine ausreichende Energieversorgung zum Heizen, Kochen und Betreiben üblicher elektrischer Geräte wie beispielsweise Telefone ist ebenfalls vom Existenzminimum erfasst (vgl. auch Sachverständigenrat für Umweltfragen, Gutachten 2016, Tenorziffer 200). Gerade um in diesen Zeiten einen angemessenen Zugang zu Informationen zu gewährleisten, muss auch ein Internetzugang garantiert sein (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2013, III ZR 98/12).

Durch die Corona-Krise werden Zahlungsrückstände in den nächsten Wochen und Monaten –wie schon im Frühjahr 2020 – zunehmen. Um Betroffene zu schützen hatte der Bundestag am 25. März ein Moratorium für Mieter, Strom- und Internetkunden (und Kreditnehmer*innen) beschlossen. Bis Ende Juni durften die jeweiligen Vertragspartner keine Kündigungen aussprechen, wenn Zahlungsrückstände auf den Maßnahmen zum Schutz vor Coronavirus beruhten. Betroffene konnten diesen Zusammenhang durch eidesstattliche Versicherung oder durch entsprechende Dokumente glaubhaft machen. Diese Regelung ist zum 1. Juli 2020 ausgelaufen. Seitdem müssen die Verpflichtungen wieder erfüllt werden; zwischen April und Juni 2020 aufgelaufene Schulden müssen aber erst zum 30. Juni 2022 beglichen werden.

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Gemäß Artikel 11 der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland verpflichtet, in Gefahrensituationen, einschließlich humanitären Notlagen und Naturkatastrophen, den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Das klingt zunächst selbstverständlich – tatsächlich sind Menschen mit Behinderungen aber von Gefahren oft besonders stark betroffen. Aktuell haben Menschen, die dringend auf technische Hilfsmittel wie E-Rollstühle angewiesen sind, besonders große Schwierigkeiten, diese warten und reparieren zu lassen – und haben faktisch jede Bewegungsfreiheit verloren. Menschen, die für ein selbstbestimmtes Leben auf Assistenz angewiesen sind, müssen mit Ausfällen rechnen, mit möglicherweise fatalen Konsequenzen. Der Staat ist daher verpflichtet, solche besonderen Gefahrenlagen zu identifizieren und kurzfristig und kreativ Abhilfe zu schaffen.

Zentral ist angesichts der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus auch, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Informationen in zugänglichen („barrierefreien“) Formaten haben. Das betrifft insbesondere Menschen mit Hör-, Seh- und kognitiven Beeinträchtigungen. Oft werden Pressekonferenzen und Nachrichten noch nicht übersetzt und untertitelt, insbesondere im „Offline“-Fernsehangebot. Dafür, dass Informationen, etwa Nachrichten und Pressekonferenzen der Bundesregierung, durchgehend in Gebärdensprache übersetzt werden, setzt sich aktuell eine Petition auf change.org ein (change.org/CoronaInfos). Einige staatliche Stellen bemühen sich um Abhilfe: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet ein Erklärvideo zum neuartigen Coronavirus in Gebärdensprache, das Bundesgesundheitsministerium gibt Informationen in Leichter Sprache heraus. Seit dem 17. März übersetzt das Robert Koch-Institut seine Pressebriefings in Gebärdensprache, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bietet ein Gebärden-Infotelefon an.

Menschen mit Behinderungen haben zudem ein Recht auf angemessene gesundheitliche Versorgung. So sind viele Menschen auch beim Arztbesuch oder im Krankenhaus auf technische Hilfsmittel, tierische oder menschliche Assistenz angewiesen. Oder sie bedürfen verständlicher Erklärungen in Leichter Sprache, um in eine gesundheitliche Maßnahme informiert einwilligen zu können. Im Zusammenhang mit zunehmend ausgelasteten Gesundheitssystemen und insbesondere Quarantäne-Maßnahmen kann das für die Gesundheitsversorgung Herausforderungen bedeuten. Wichtig ist es, die erhebliche Bedeutung für die Grund- und Menschenrechte der betroffenen Personen anzuerkennen – und angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das gilt insbesondere auch für den Fall, dass Menschen mit Behinderungen an COVID-19 erkranken. Sie dürfen dann gegenüber Menschen ohne Behinderungen nicht benachteiligt werden (zu Auswahlentscheidungen bei Ressourcenknappheit).

Weitergehende Informationen zum Recht von Menschen mit Behinderungen auf Schutz und Sicherheit in der Katastrophenhilfe finden sich in der Studie des UN Hochkommissariats für Menschenrechte von 2015 und beim Deutschen Institut für Menschenrechte.

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Die Auswirkungen der Corona-Krise sind für Asylsuchende, die auf engstem Raum in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, besonders gravierend. Durch die geteilten Schlafzimmer, die gemeinsam genutzten Küchen und Sanitäranlagen und die hohe Anzahl von Bewohner*innen kann sich das Virus dort schnell ausbreiten. Der vorgeschriebene Abstand zu Mitmenschen kann in Sammelunterkünften nicht eingehalten werden. In vielen Unterkünften sind Bewohner*innen bereits positiv auf das Virus getestet worden. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen stieg im Frühjahr 2020 die Zahl der Infizierten innerhalb von zwei Wochen von 7 auf 313 Geflüchtete. Ein Bewohner des Ankerzentrums Schweinfurt starb am 20. April 2020 an der Infektion. Die Reaktionen unterscheiden sich nach Bundesland und Betreiber erheblich. In manchen Unterkünften führen Krankheitsfälle zu strenger Isolation aller Bewohner*innen. Wegen der ohnehin beengten Verhältnisse führt dies dazu, dass Menschen zu viert in einem kleinen Zimmer in Quarantäne gehalten werden oder sie werden in polizeilich abgeriegelten Quarantänebereichen untergebracht. In anderen Unterkünften bewegen sich die Bewohner*innen trotz bestätigter Infektionsfälle weiterhin uneingeschränkt.

Nach dem Infektionsschutzgesetz muss die zuständige Behörde die notwendigen Maßnahmen treffen, um die durch Corona drohenden Gefahren abzuwenden (§ 16 Absatz 1 Satz 1 und § 28 Absatz 1). Zum Infektionsschutz sind bundesweit Betreuungseinrichtungen für Kinder geschlossen und Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen größerer Zahlen von Menschen stark eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund ist es ein offensichtlicher Wertungswiderspruch, dass die Bundesländer die Sammelunterkünfte in der bisherigen Form aufrechterhalten.

Um ihren Schutzpflichten nachzukommen, sind die Bundesländer gehalten, Geflüchtete, soweit möglich, dezentral unterzubringen, z.B. in leeren Wohnungen, Hotels oder kleineren Einrichtungen. Das Asylgesetz sieht vor, dass die Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge beendet werden kann (§ 49 Absatz 2 AsylG). Bei ernstlichen infektionsspezifischen Gefahren verbleibt den Behörden kein Ermessensspielraum. Das sah auch das Verwaltungsgericht Leipzig so und gab am 22. April 2020 dem Eilantrag eines Bewohners der Aufnahmeeinrichtung Dölzig auf dezentrale Unterbringung statt. Das Gericht stellte fest, dass die Abstandsregeln in der Unterkunft nicht eingehalten werden können und daher nach § 49 Abs. 2 AsylG eine Verlegung möglich und auch geboten sei. Das Verwaltungsgericht Dresden entschied am 24. April 2020, dass eine hochschwangere Asylsuchende wegen des Infektionsrisikos nicht weiter in der Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden wohnen muss. Diese Entscheidungen sind ein wichtiges Signal an alle Landesregierungen, alternative Unterbringungsmöglichkeiten zu organisieren.

In Bremen und Bayern haben die Flüchtlingsräte bereits Anfang April 2020 gegen die Verantwortlichen der Landesregierungen Strafanzeigen gestellt – wegen Verstoßes gegen die dort geltenden Verordnungen und Allgemeinverfügungen zur Corona-Bekämpfung. Durch den Betrieb der Unterkünfte werden die angeordneten Abstandsgebote, Versammlungs- und Gastronomieverbote verletzt. Die Staatsanwaltschaft Bremen stellte das Verfahren am 20. April 2020 ohne Ermittlungen ein, da sie davon ausgeht, dass die Bewohner*innen einer Unterkunft zum gleichen Haushalt gehören. Die Anzeige hat dennoch erheblich dazu beigetragen, den öffentlichen Druck auf die Landesregierung zu erhöhen.

Eine dezentrale Unterbringung ist zudem erforderlich, um im Fall von Quarantäne oder Ausgangssperren eine menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten sicherzustellen. Nach dem Infektionsschutzgesetz müssen die Behörden die Allgemeinheit über die Gefahren und Verhütungsmöglichkeiten aufklären (§ 3 IfSG). Mehrsprachige Informationen zum Coronavirus hat die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration veröffentlicht. Die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl aktualisiert zudem fortlaufend einen Newsticker mit Corona-Informationen für Geflüchtete und Ihre Unterstützer*innen.