Was sind die schönen Dinge des Lebens?

28.08.2021, 09:23 Uhr 2 Min. Lesezeit

In diesen Wochen tun wir viele Dinge zum ersten Mal wieder – Dinge, auf die wir lange gewartet haben, die uns früher aber ganz selbstverständlich erschienen. Für diese Geschenke des Lebens sollten wir nach Corona dankbarer sein.

Die kleinen Dinge machen das Leben lebenswert, sagt man, aber manchmal sind sie so klein, dass man sie kaum noch sieht. Man sagt auch, dass wir vieles erst dann zu schätzen wissen, wenn wir es nicht mehr haben. Und dass man immer das haben möchte, was gerade nicht zu bekommen ist. Wie sehr das alles stimmt, hat uns die Corona-Zeit deutlich vor Augen geführt.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war es für uns noch das Selbstverständlichste auf der Welt, uns ungezwungen zu treffen, zu reisen und auf Veranstaltungen zu gehen. Dann verschwand das alles plötzlich, und niemand wusste so recht, wann es wieder zurückkehren würde. Jetzt, da es Schritt für Schritt wieder mehr Möglichkeiten gibt, ein "normales" Leben zu leben, fühlt sich dieses "Normal" plötzlich ganz besonders an. Die Zwangspause war nervig, manchmal hat sie auch wirklich wehgetan – aber sie hatte auch einen schönen Effekt: Sie lehrte uns, die kleinen, schönen Dinge neu zu schätzen.

Vieles tun wir zum ersten Mal wieder – was für eine Freude!

Jedes erste Mal fühlt sich besonders an, und in diesen Wochen fühlt sich vieles so an, als würde man es zum ersten Mal tun – oder zumindest zum ersten Mal wieder. Endlich wieder Leute umarmen, mit vielen Freunden ohne schlechtes Gewissen beisammensitzen, in Urlaub fahren, zusammen tanzen, auf Konzerte gehen. Das waren Dinge, die wir unser ganzes Leben lang getan haben, ohne groß darüber nachzudenken, die wir vielleicht sogar manchmal schon langweilig fanden. Jetzt fühlen sie sich an wie ein Abenteuer.

Man muss sich bei solchen Gelegenheiten einmal die Zeit nehmen, in die Gesichter der anderen zu schauen: wie sie lachen, grinsen, wie viel Leichtigkeit dort plötzlich wieder ist. Oder auch einfach Zeit, um in sich selbst hineinzuhorchen und bewusst wahrzunehmen, welch eine Wohltat diese doch angeblich so kleinen Dinge für uns sind. 

Warum wir noch lange an die Corona-Zeit denken sollten

Nein, die Pandemie ist noch nicht vorbei, aber sie hat uns jetzt schon gezeigt, was zählt im Leben. Und das sind nicht nur Konzerte, Reisen und Restaurants, sondern noch viel grundsätzlichere Dinge, über die wir uns im Alltag so gut wie keine Gedanken gemacht haben: körperliche und psychische Gesundheit, ein sicherer Arbeitsplatz, soziale Kontakte. Das war immer da, und wird auch immer da sein, dachten wir. Stimmte aber nicht.

Der Ausweg aus der Pandemie ist in Sichtweite, und irgendwann werden uns Lockdown und Kontaktverbote wie skurrile Erinnerungen erscheinen. Vieles, was vor Corona normal war, wird wieder normal werden. Das ist eine schöne Aussicht – aber auch ein Problem. Wir werden all die schönen Dinge des Lebens wieder als gegeben hinnehmen und meistens auf das schauen, was uns unzufrieden macht, so wie wir es vor der Pandemie getan haben. Die Erinnerung an Corona sollte in uns weiterleben: daran, dass vieles, was wir erleben dürfen, ein wunderbares Geschenk und keineswegs selbstverständlich ist.

Es geschieht unentwegt Furchtbares in der Welt. Wo nur bleibt das Schöne? Als Kontrapunkt zu Gewalt und Krise: über Ästhetik und Alltagserfahrung.

Alltag und Ästhetik haben vorabeine fundamentale Erfahrunggemeinsam: Beiden können wirnicht entrinnen. Der Mensch istvielleicht nicht, wie Günther Anders undJean-Paul Sartre mutmaßten, zur Freiheitverurteilt; aber er ist zum Alltag verdammt. Der Alltag: Das ist, wie schon das Wort andeutet, das, was immer geschieht. Der Alltag ist vorab der Ort für Gewohnheiten und Wiederholungen, für Routinen und Rituale, für standardisierte Handlungsabläufe und mechanisierte Verrichtungen. Der Alltag ist die Erfahrung der ewigen Wiederkehr des Gleichen in seiner profanen Gestalt: Aufstehen, Waschen, Zähneputzen, Kaffee, Fahrt zur Arbeit, Büro, Wie geht's, danke gut, Computer einschalten, E-Mail-Verkehr, Telefonieren, Einkaufen, Essen beim Italiener, Fahrt nach Hause, Fernsehen, kurze Erinnerung an Sex, Einschlafen. Je nach Standort, Lebensalter, sozialer Lage, familiärer und beruflicher Situation lassen sich unzählige solche Tagesabläufe skizzieren, denen bei allen Differenzen die Konstanten des Immergleichen gemeinsam sind.

Der Alltag: Das ist das Gewöhnliche und Gewohnte, und die Erfahrungen, die wir in diesem Alltag als Alltagserfahrungen machen, sind gewöhnlich und ohne jede größere Überraschung. Und das gilt auch für Menschen, die angeblich einaufregendes Leben führen. Denn sofern dieses Leben ihren Alltag kennzeichnet, ist es nur ausder Perspektive mancherBeobachter aufregend:Aufstehen, Schönheitspflege, Sektfrühstück, Ta-xi, Flughafen, Check-in, Fliegen, Landen,Taxi, Hotel, Taxi, Studio, Fotoshooting, Interviews, Dinner, Party, Small Talk, Taxi, Hotelbar, Sex, Einschlafen.

Dem Alltag können wir nicht entrinnen. Wäre es anders, wäre das Leben nicht lebbar. Natürlich: Der Alltag kann mehr oder weniger stereotyp ablaufen, er kann immer wieder kleine oder manchmal auch größere Entscheidungen abverlangen, es gibt auch hin und wieder Überraschungen, aber solange es sich um Alltag handelt, machen wir das Übliche, und solange wir das Übliche machen, handelt es sich um den Alltag.

Aber auch der Ästhetik können wir nicht entrinnen. Aisthesis heißt Wahrnehmung,und wir können nicht anders, als wahrnehmend leben. Der Mensch ist ein Sinnenwesen, und egal, in welcher Situation und körperlichen Konstitution wir uns befinden – irgendetwas sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen und spüren wir immer. Nicht immer in derselben Intensität, nicht immer auf den denselben Sinn konzentriert, nicht immer mit derselben Aufmerksamkeit – aber irgendetwas nehmen wir immer wahr. Die alltägliche Wahrnehmung ist allerdings davon gekennzeichnet, dass es sich um eine äußerst reduzierte Wahrnehmung handelt. Die meisten Reize, die unsere Sinnesorgane aufnehmen können, werden erst gar nicht einer bewussten Wahrnehmung zugeführt. Und auch das, was wir tatsächlich sehen oder hören, wird selektiv, oft nebenbei, unkonzentriert oder nur halb wahrgenommen.

Für den Alltag genügt dies nicht nur, eswäre fatal, müssten wir alle Reize, die auf uns eindringen, mit derselben Intensität und Aufmerksamkeit wahrnehmen. Der Alltagkann überhaupt als ein Ort beschrieben werden, in dem es um Wahrnehmungsreduktion, nicht um Wahrnehmungsschärfung geht. Gerade weil es um dasGewohnte geht, mussman in der Regel nichtso genau hinsehen oder hinhören. Die ständigen grantigen Bemerkungendes Chefs überhören wir, die Flecken an der Wanddes Büros sehen wirnicht mehr, und auchder gewohnt fade Kaffee am Morgen vermag die Geschmacksnerven kaum mehr zu beleidigen. Bei dieser, negativ formuliert, Abstumpfung der Sinne handelt es sich allerdings um eine notwendige Ökonomie der Reizverarbeitung, ohne die wir den Alltag nicht leben könnten. Programme zur Entgrenzung der Wahrnehmung gehören nicht unbedingt zu den Agenden des Alltags, dafür aber die notwendige Erfahrung der Langeweile. – Unsere alltägliche Wahrnehmung ist deshalb selten auf ein einzelnes Objekt, eine eng definierte Reizkonstellation konzentriert. Im Alltag nehmen wir,grade in der ephemeren Form des Wahrnehmens, weniger Einzelheiten als Gesamtheiten wahr, das, was der Philosoph Gernot Böhme „Atmosphären“ genannt hat. Wahrnehmung wird dabei als ein Akt eines umfassenden Spürens begriffen, der auch nicht auf die rezeptive Tätigkeit eines Sinnesorgans reduziert werden kann: „Es sind weder Empfindungen noch Gestalten, noch Gegenstände oder deren Konstellationen, wie die Gestaltpsychologie meinte, was zuerst und unmittelbar wahrgenommen wird, sondern es sind die Atmosphären, auf deren Hintergrund dann durch den analytischen Blick so etwas wie Gegenstände, Formen, Farben und so weiter unterschieden werden.“

Der wahrgenommenen Atmosphäre korrespondiert im wahrnehmenden Subjekt aber eine ähnlich diffuse Befindlichkeit, die man am besten als „Stimmung“ bezeichnen könnte. Auf Atmosphären reagieren wir nichtmit zustimmenden oder ablehnenden Urteilen, sondern mit Stimmungen. Wir fühlen uns in einem Raum, in einer Situation, in einer Gesellschaft eher wohl oder unwohl, eher frei oder beengt, eher unbehaglich oder entspannt, eher geängstigt oder geborgen, eher aufgeregt oder gelangweilt.

Diese diffusen Stimmungen und ihre Korrelate können sich allerdings zu präzisen Wahrnehmungen und ebenso präzisen Reaktionen verdichten. Dann sehen wir etwas, hören etwas, unsere Sinnesorgane werden in einer Weise gereizt, dass wir darauf auch reagieren können oder reagieren müssen. Aus der Flut von Eindrücken, die wir kaum wahrnehmen, kristallisieren sich jene heraus, die von uns von Bedeutung sind: Signale! Wahrgenommen werden Reize, die mich betreffen, einen Signalwert darstellen und entsprechende Informationen und, damit verbunden, Handlungsanweisungen enthalten: Nun soll ich stehen bleiben, etwas kaufen, mich ducken, nach einem Ruf mich umdrehen. Alltägliche Wahrnehmungsprozesse – die eigentliche Alltagsästhetik also – gehorchen in erster Linie funktionalen Ansprüchen. Ich nehme wahr, um mich zu orientieren. Keine Reizwahrnehmung erschöpftsich allerdings in dieser funktionalen Bestimmung. Halb intuitiv, halb reflexiv werdenReize nicht nur nach ihrer alltagsspezifischen Bedeutung bewertet, sondern jeder Reiz löst – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – eigentümliche Empfindungen aus, die grundlegend zwischen den Polen Lust und Unlust pendeln. Vergessen werden darf aber nicht, dass zwischen diesen Polen die Gleichgültigkeit lauert, mit der wir einen Großteil des Reizangebots abfedern. Dass Wahrnehmung, also die Verarbeitung von Reizen, diese emotionale Komponente aufweist, eröffnet die Perspektive für einen engeren Begriff des Ästhetischen. Wir können ein und denselben Reiz als eine handlungsrelevante Information behandeln und gleichzeitig die Erfahrung machen, dass uns dieser Reiz eine spezifische Lust oder Unlust bereiten mag, der nicht mit der Information, die der Reiz vermittelt, zusammenhängt, sondern mit der spezifischen sinnlichen Beschaffenheit des Reizes, die uns angenehm oder unangenehm ist. Anders formuliert: Reize lösen in uns immer auch, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, Empfindungen aus, die sich nicht auf die Botschaft einer Reizkonstellation, sondern auf ihre Beschaffenheit beziehen, nicht auf ihre Funktion, sondern auf ihre Form. Im Gegensatz zum allgemeinen Begriff der Wahrnehmung könnte man diese spezifische emotionale Reaktion, die Formen als Formen in uns auslösen können, eine ästhetische Empfindung nennen.

Der Begriff der ästhetischen Empfindung ist den ästhetischen Diskurses des 18. Jahrhundert entlehnt. Hier nur ein Hinweis: In seiner voluminösen, den ästhetischen Geist seiner Zeit lexikalisch erfassenden und bis heute anregenden „Allgemeinen Theorie der schönen Künste“ von 1771/1774 hat Johann Georg Sulzer, der schon 1751/1752 eine „Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen“ vorgelegt hatte, die Empfindung als komplementäre Erscheinung zur Erkenntnis gedacht und folgendermaßen definiert: „Bei der Erkenntnis sind wir mit dem Gegenstand, als einer ganz außer uns liegenden Sache beschäftiget; bei der Empfindung aber geben wir mehr auf uns selbst, auf den angenehmen oder unangenehmen Eindruck, den der Gegenstand auf uns macht. Die Erkenntnis ist hell oder dunkel, deutlich und ausführlich, oder konfus und eng eingeschränkt; die Empfindung aber ist lebhaft oder schwach, angenehm oder unangenehm.“ Mit dem Begriff der Empfindung kommt ein eigenständiger Erfahrungsbereich ins Spiel, der sich nicht auf eine wie immer sinnlich vermittelte Objekterkenntnis, sondern auf eine Subjektzentriertheit bezieht, die weniger daran interessiert ist, die Dinge zu erkennen, sondern vielmehr wahrnimmt, was die Wahrnehmung der Dinge in uns und an uns affektiv auslöst.

Die ästhetische Empfindung ist so ein selbstreflexives Verfahren: Wir spüren, dass die reine Form eines Gegenstandes, die Gestalt, in der uns eine Botschaft erreicht, in uns eine angenehme oder unangenehme Empfindung bewirkt, wirspüren, dass wir etwas spüren. Manchmal mögen Form und Funktion von Reizkonstellationen eine Koinzidenz bilden, und Lust oder Unlustkönnen mitunter selbstzum Informationsgehaltgerechnet werden, mitunter aber kann diesauch auseinanderdriften, so sehr, dass der Signalcharakter des Reizes durch die positiven oder negativen Emotionen, die er auslöst, konterkariert wird.

Dazu ein Beispiel. In Österreich sind manche Verkehrsampeln, wohl aufgrund verkehrspsychologischer Untersuchungen, neu gestaltet worden, wobei das Ampelgrün eine dunklere Schattierung, die fast ans Türkis reicht, bekommen hat. Man kann nun von dieser Farbe als Farbe fasziniert sein, was allerdings bei jedem Stopp vor einer derartigen Ampel zu einer paradoxen Situation führt: Schaltet die Ampel auf Grün, signalisiert dies, dass man weiterfahren soll. Dieses tiefe Grün ist aber so schön, dass man am liebsten stehen bliebe, um sich an diesem Anblick zu weiden. Natürlich fährt man in der Regel weiter und verzichtet auf den Genuss. Das Schöne will verweilen, der Alltag zwingt uns, es gleich wieder zu verlassen. Damit aber ist das erste Grundprinzip der ästhetischen Alltagserfahrung beschrieben. Es lautet: Es ist schon wieder vorbei.

Diesem Prinzip gehorchen alle ästhetischen Ereignisse, die uns im Durchmessen des Alltags begegnen, die Farben und Formen, die Töne und Gerüche, die wir wahrnehmen beim Überqueren einer Straße, beim Fahren in der Eisenbahn, beim Spazieren durch ein Stadtviertel, beim Betreten eines unbekannten Hauses oder Raumes, beim Schlendern in einer Fußgänger- oder Einkaufszone. Nur selten wird unser Blick oder Ohr dabei so gebannt, dass wir innehalten, um uns dem Reiz, der uns getrof-fen hat, ganz zu widmen, aber auch wenn wir, was die Regel ist, solche Reize nur peri-pher wahrnehmen, werden sie eine schwa-

che Empfindung ins unsauslösen, eine kleine Affektion des Gemüts, ei- nen Anflug von Faszination. Paradigmatisch für dieses Muster einer ästhetischen Alltagserfahrung mag die „schöne Frau“ genannt sein: Sie tritt ins Blickfeld, fälltuns auf, zieht unserenBlick magisch an, sie geht vorüber, wir drehen uns nach ihr um, sie ist verschwunden. Selten kommt es dabei zu sozialen Interaktionen, die das Flüchtige dieser Begegnung transzendieren; selten aber kommt es auch zu jener Intensität des Flüchtigen, wie sie Charles Baudelaire in dem Gedicht „À une passante“ aus den „Fleurs du mal“ gestaltet hat: „Ein Blitz – und dann die Nacht! – O flüchtiges Glück! / Mein Herz brach auf, du bist vorbeigegangen. / Kehrst du im Jenseits, früher nicht, zurück? / Zu spät! Vorbei! Und kaum erst angefangen...“ Zu spät, vorbei! Aus dem diffusen Reizkonglomerat des Alltags taucht eine Gestalt, ein Gesicht auf, bannt für einen Moment den Blick, erscheint wie ein Versprechen, eine Möglichkeit am Horizont und ist verschwunden. Die Ästhetik des Alltags ist so immer auch eine Ästhetik der vorübergegangenen Möglichkeiten.

Es ist, so eine Schussfolgerung aus dem ersten Prinzip der ästhetischen Alltagserfahrung, der Alltag selbst, der eine Reihe von auch potenziell außergewöhnlichen Wahrnehmungen auf das Moment einer ästhetischen Empfindung reduziert, weil die Situation nichts anderes zulässt. Aus diesen Situationen mag aber auch die permanente Sehnsucht wachsen, den Alltag selbst hinter sich lassen zu können, um sich ganz einer Reizkonstellation auszusetzen, die in der Regel nur flüchtig in Erscheinung getreten ist. Wie oft haben wir uns schon vorgenommen, eine schöne Hausfassade, an der wir auf dem Weg zur Arbeit vorbeieilen, einmal genauer zu betrachten, oder eine Landschaft, die wir nur vom täglichen Vorbeifahren kennen, endlich einmal aufzusuchen und zu durchwandern? Das Ephemere, Flüchtige, Verschwindende gehört so wesentlich zu dem Kosmos der ästhetischen Alltagserfahrungen.

Das zweite Prinzip dieser Klasse von Erfahrungen aber – wie könnte es auch anders sein – lautet: Es ist immer noch da. In demMaße, in dem der Alltag Gewohnheit darstellt, ist er durchsetzt von Wahrnehmungskonstanten. Das beginnt mit unsselbst und dem sprichwörtlichen Blick in den Spiegel am frühen Morgen: Wir sind also noch da, aber wie sehen wir aus? Und in diesem „Wiesehen wir aus?“ steckt im Kern jene Erfahrung, die diese Ästhetik der alltäglichen Anwesenheit, ihre Penetranz, begleitet: Was ist, könnte auch anders in Erscheinung treten.Man muss etwas gegen die Falten tun, die Wände gehören längst wieder einmal neu gestrichen oder tapeziert, ein schönerer Teppich würde auch nicht schaden, auch eine neue Krawatte wäre angebracht, und die Küche sieht überhaupt entsetzlich aus. Während wir die flüchtigen ästhetischen Alltagserfahrungen vergeblich festhalten wollen, wollen wir die Dinge, die immer da sind, verändern, erneuern, austauschen – meistens übrigens auch vergeblich. Die Motive für solche Veränderungswünsche können vielfältig sein, und in der Regel geht es dabei ganz pragmatisch zu; aber die Konstanten der Lebenswelt, in der wir unmittelbar existieren – Körper, Wohnung, Kleider, Auto, Gebrauchsgegenstände – zählen zu jenen Bereichen, in denen das Ästhetische im Alltag oft entscheidend erscheint, da wir diese Konstanten so gestaltet haben wollen, dass sie auch unseren ästhetischen Sinn, der sich auf die reine Form einlassen kann, befriedigen. Wir wollen besser aussehen, und die Küche soll nicht nur funktional, sondern – je nach Geschmack – modisch oder altmodisch, gemütlich oder elegant, hell oder indirekt beleuchtet, kühl oder in warmen Tönen oder einfach nur „schön“ sein.

Wollten wir die zwei Prinzipien der ästhetischen Alltagserfahrung ontologisieren,könnte man sagen, es gibt zwei Klassen von Dingen, die im Alltag ästhetisch relevant werden können: Dinge, die uns begegnen, und Dinge, die uns umgeben. Der Alltag ist soprinzipiell von ästhetischen Aspekten kontaminiert. Trotzdem unterliegen wir aber oftdem Bedürfnis, den Alltag mit zusätzlichen ästhetischen Reizen anzureichern, nicht zuletzt,weil diese nicht nur angenehme, sondern auch stimulierende und lustvolle Affektionen versprechen. Wir verlagern dabei unser Interesse auf die Empfindungsqualität der Reize selbst, von der Funktion auf die Form, betonen das Ambiente und das Design, richten unsere Aufmerksamkeit auf Mode und Materialien, Schmuck, Fassaden und Farben, wir richten unser Leben, wenn möglich, so ein, dass diese ästhetische Dimension des Alltags in den Vordergrund rücken kann – wenn wir bei der Auswahl der Restaurants, in denen wir alltäglich essen, auch auf die Gestaltung desselben oder bei der Wahl des Autos, mit dem wir zur Arbeit fahren müssen, auf ein besonders Design achten –, und wir arbeiten kollektiv daran, den Wahrnehmungen, denen wir im öffentlichen Raum nicht entgehen können, so zu gestalten, dass sie in ihrer ästhetischen Dimension, die sie notwendig haben, einigermaßen erträglich, wenn möglich auch ein wenig aufregend sind. Zumindest aber sollen diese Dinge „schön“ sein. Deshalb die Debatten über Straßenbeleuchtungen, Kunst im öffentlichen Raum und die Sünden der Architekten.

Die älteste und in der Moderne umstrittenste Kategorie der Ästhetik, das Schöne, ist damit zur gleichermaßen zentralen wie auch unschärfsten Kategorie der Ästhetik der Alltagserfahrung geworden. Nicht im Feld genuiner ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten, wohl aber an den Schnittstellen von Ästhetik und Alltagserfahrung hat sich das Schöne wie keine andere Kategorie erhalten und festgesetzt. Der Satz Friedrich Nietzsches aus der „Götzen-Dämmerung“: „Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön:auf dieser Naivität ruht alle Ästhetik, sie ist deren erste Wahrheit“, gilt uneingeschränkt im Bereich der Alltagserfahrung. Drogerien und Parfümerien, die Modeindustrie, die Casting-Shows im Fernsehen, die Wellness- und Beauty-Angebote, nicht zuletzt die Schönheitschirurgie – alle leben von diesem Satz. Und wenn wir uns, darüber hinausgehend, auch einen schönen Urlaub wünschen, nach einem schönen Auto trachten, ein schönes Mobiltelefon zücken, einer schönen Frau nachblicken, einen schönen Schreibtisch suchen und wenigstens hin undwieder nicht nur gut, sondern auch schön essen gehen und dabei schöne Gespräche führen wollen, dann drücken wir mit dieser universellen Vokabel nicht nur ein mangelndes sprachliches Differenzierungsvermögen aus, sondern auch die Einsicht, dass im Alltag das Ästhetische in einem vielleicht unpräzisen, aber dafür umso umfassenderen Sinn einerseits positive und angenehme Empfindungen auslösen soll, andererseits aber mehr ist als nur die isolierte Gefälligkeit einer Einzelheit.

Die wirklich „schönen“ Dinge des Lebens weisen nicht nur ein hübsches oder extravagantes Design auf; sie sind nicht nur elegant oder reizend, witzig oder originell; sie sind schön dann, wenn sie die Alltäglichkeit des Alltäglichen selbst bis hin zum Kitsch verklären können, indem sie die technischen, kommunikativen und sozialen Funktionalitäten des Alltags mit einem Schimmer versehen, der nicht nur unseren Sinnesorganen schmeichelt und unseren Geschmack befriedigt, sondern eine leise Ahnung davon vermittelt, was es hieße, ein zumindest in Momenten geglücktes Leben zu führen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2009)